Zeitungaustragen ist ein ruhiger, aber auch selbstständiger und ausgewogener Job. Volontär Dominik Kaltenbrunn hat eine Zustellerin in Haslach im Kinzigtal auf ihrer Tour begleitet – und eine zugleich erfrischende und beruhigende Erfahrung gemacht.
Es herrscht fast absolute Stille, Haslach ist menschenleer. Es ist kurz vor 2.30 Uhr am Dienstagmorgen, ich stehe mitten auf dem Marktplatz in Haslach, dem Herzen der Stadt. Vor einem Modehaus liegen bereits zwei in durchsichtige Folie verpackte Zeitungsstapel bereit. Nur das monotone Plätschern des Brunnens ist zu hören. Straßenlaternen beleuchten den Marktplatz matt. Der Kirchturm St. Arbogast ist in der Schwärze der Nacht nur schemenhaft auszumachen, nur die große runde Turmuhr strahlt hell beleuchtet in der Dunkelheit.
Punkt 2.30 Uhr biegt Maria Matt mit ihrem Fahrrad auf den Marktplatz ein. Sie trägt eine Mütze, an deren Schild sie eine kleine Taschenlampe geklemmt hat. Das wird sich als äußerst nützlich erweisen, um mitten in der Nacht die Namensschilder auf den Briefkästen lesen zu können. Sechsmal die Woche, nur sonntags nicht, trägt Matt rund 90 Exemplare der Kinzigtalausgabe der Mittelbadischen Presse aus. Gleichzeitig liefert sie einige Briefe und wenige Exemplare überregionaler Blätter wie etwa die Süddeutsche Zeitung aus. Sie braucht mit den zusätzlichen Briefen bis zu 1,5 Stunden für eine Tour durch ihr Verteilungsgebiet: „Das kommt auch auf die Tagesform an. Manchmal ist man schnell unterwegs, es gibt aber auch Tage, an denen es einfach mal nicht so läuft und man sich aufraffen muss“, so die Frühaufsteherin. Seit 17 Jahren macht die Haslacherin bereits die Arbeit in den frühen Morgenstunden. Matt schläft zweimal pro Tag, einmal vor dem Zeitungsaustragen und einmal danach. „Ich gehe gegen halb zehn ins Bett und trage dann ab 2.30 Uhr die Zeitungen aus. Danach lese ich das aktuelle Exemplar, um runterzukommen, und kann dann jeweils sofort einschlafen. Den Tag über habe ich dadurch frei und kann mir meine Zeit selbst einteilen“, beschreibt Matt ihren Tagesrhythmus. Zu ihrem Beruf ist sie durch ihren Schwager gekommen. „Vor 17 Jahren hat er mit dem Zeitungsaustragen begonnen, nach einem Vierteljahr aber abgebrochen, es war ihm zu anstrengend. Da habe ich mir gedacht, das ist doch der ideale Job für mich“, sagt die langjährige Zustellerin.
Als Erstes sortiert Matt die Briefe passend zu ihrer Laufroute durch Haslach. In dem Gepäckkorb auf dem Sattel ihres Rads hat sie eine Fahrradtasche, die sie ebenso wie eine seitlich am Hinterrad angebrachte Gepäcktasche und einen Tragekorb vor dem Lenker mit Zeitungsexemplaren befüllt. Das Offenburger Tageblatt muss sie dabei nach zwei Ausgaben sortieren, eine für das Obere Kinzigtal und eine für Offenburg. Alle Abonnenten der Mittelbadischen Presse haben kleine, viereckige blaue Sticker auf ihren Briefkästen, anhand derer Matt zuordnen kann, wer welche Ausgabe bezieht. Nach 17 Jahren weiß sie das aber schon längst auswendig. Auch ihre Route läuft sie automatisiert ab, ohne darüber nachdenken zu müssen. Am Lenker ihres Fahrrads baumelt ein Regenschirm, den sie heute aber nicht brauchen wird.
Das erste Zeitungsexemplar werfe ich im Rathaus direkt am Marktplatz ein. Passenderweise erhält das Stadtoberhaupt Haslachs, Bürgermeister Philipp Saar, die Kinzigtalausgabe der Mittelbadischen Presse als Erster. Weiter geht es auf der westlichen Seite der Hauptstraße, als Nächstes erhält das Backhaus Dreher eine Zeitung. Später laufen wir unter anderem durch sehr enge Gassen, zum größten Teil auf Kopfsteinpflaster, durch die Innenstadt. Viele Gebäude in diesem Verteilgebiet sind alte Fachwerkhäuser. Die Erbauungsjahre und Namen der Wohnungen sind in die Fassaden gemeißelt oder aufgeschrieben. „Jeder hat seine Vorlieben, bei jedem Haus weiß ich genau, wer eine Zeitung bekommt und wie er sie geliefert haben will“, sagt Matt. Sie erklärt mir verschiedene Einwurf-Techniken. Sind die Briefkästen groß genug, kann sie die Zeitungsexemplare ungeknickt einwerfen, meistens muss sie sie aber einmal quer falten. Mit etwas Übung geht das problemlos mit einer Hand. Wenn unter den Briefkästen zusätzlich eine Zeitungsrolle vorhanden ist, kann sie die Zeitungen länglich knicken, das ist umständlicher und dauert etwas länger. „An öffentlich gut zugänglichen Stellen geht das nicht, sonst können die Zeitungen aus den unverschlossenen Rollen geklaut werden. Das kommt leider auch in Haslach regelmäßig vor“, sagt die Zeitungsausträgerin.
Oftmals muss ich Treppenaufgänge hinaufsteigen oder um Häuser herum in Hinterhöfe laufen, um die Zeitungen zuzustellen. Besonders in letzteren Fällen ist es teilweise stockdunkel vor den Briefkästen. Die Taschenlampe an Matts Mütze, die sie dauerhaft eingeschaltet lässt, ist hier nützlich. Manche wollen ihre Zeitung einfach vor die Haustüre gelegt, andere nur halb in den Briefkastenschlitz gesteckt haben. In einem Fall werfe ich die Kinzigtalausgabe auf Anweisung meiner heutigen Ausbilderin einfach durch ein Gitter-Tor auf einen kleinen Schemel. Trotz der gleichmäßigen Bewegungsabläufe ist das Zeitungsaustragen so doch abwechslungsreich. Am Ende einer Zustell-Tour müssen die Gepäcktaschen an Matts Rad leer sein, kein Zeitungsexemplar – außer ihrem eigenen – darf übrig sein. „Sonst weiß man, dass man irgendwo ein Haus vergessen hat, und muss nochmal los“, sagt die routinierte Zeitungsausträgerin. „Am schlimmsten ist es, wenn man verschläft. Denn alle Zeitungen müssen bis sechs Uhr verteilt sein, dann pressiert es also“, so Matt in ihrem badischen Dialekt.
Auf unserer gesamten Tour begegnen wir nicht einem einzigen Menschen auf der Straße, wir arbeiten in der Stille und Einsamkeit. Samstagsmorgens aber sei immer mehr los, vor allem junge Leute, die am Freitagabend feierten, wären dann unterwegs. „Wenn im Dezember die Weihnachtsfeiern losgehen, wird es auch deutlich voller“, berichtet Matt. Gegen 3.30 Uhr kommen wir an einer schon beleuchteten Bäckerei vorbei, Geräusche geschäftigen Treibens dringen aus dem Fenster. Der Geruch frisch gebackenen Brots steigt in meine Nase. Wir sind also nicht die einzigen, die so früh arbeiten. „Wenn man will, kann man in der Bäckerei schon etwas kaufen. Ich mache das meist, wenn ich verspätet bin“, berichtet Matt. Im beschaulichen Haslach im Kinzigtal sei ihr, wenn sie als Frau alleine im Dunklen unterwegs ist, noch nie etwas passiert. „Einmal bin ich gegen einen Hund gefahren, der schlafend vor der Haustür lag. Der Hund hat aber nur kurz gebellt, das war schon alles“, erzählt die erfahrene Zeitungsausträgerin. Sie schätzt die Ruhe und Einsamkeit an ihrem Job: „Ich kann mir die Zeit selbst einteilen, niemand steht neben mir und sagt, was ich zu tun habe. Ich bin an der frischen Luft unterwegs, das ist gesund.“ Auch ich spüre schon nach einer Stunde eine beruhigende Wirkung. Die immer selben Handbewegungen und Abläufe haben fastetwas Meditatives, das Arbeiten in Stille im Freien beruhigt meine Sinne.
Auch wenn es regnet, stürmt oder schneit muss Matt nachts raus, um ihre Arbeit zu machen. Vor Arbeitsbeginn überprüft sie stets die Außentemperatur. Heute sind es 13 Grad Celsius: „Das ist perfekt, nicht zu warm und nicht zu kalt“, so Matt. Regnen würde es hier ohnehin nur selten. „Zur Not kann man einfach ein Unwetter abwarten, solange die Zeitungen bis sechs Uhr zugestellt sind.“ Erkältet hätte sie sich bei der Arbeit noch nie: „Krank werde ich nur im Urlaub“, sagt die Austrägerin.
Es ist jetzt kurz vor vier Uhr morgens. Wir kehren, diesmal über die östliche Hauptstraßenseite, wo wir die letzten Zeitungsexemplare in die Briefkästen einwerfen, zum Ausgangspunkt zurück. Mein Smartphone zeigt an, dass wir etwa 5000 Schritte und 4,5 Kilometer gelaufen sind. Müde bin ich gar nicht, die frische Nachtluft und Bewegung haben gut getan. Auf dem Weg zu meinem Auto passieren mich inzwischen vereinzelt Autofahrer, ansonsten höre ich nur Naturgeräusche wie das Zirpen von Grillen oder das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln. Ich genieße es, schon bald wird die Hektik des Alltags mich wieder einholen, Menschen eiligen Schritts die Straßen bevölkern. Matt wird jetzt Zeitung lesen und nochmals schlafen. Und dann wird sie wieder draußen unterwegs in Haslach sein: Nach dem Frühstück steht die Gassirunde mit ihrem Hund an.
Foto: Ulrich Marx