Die 50 Jahre voll zu machen ist reizvoll: Johanna Geiger stellt in Offenburg die Mittelbadische Presse zu. Als junge Mutter wollte sie zunächst nur auf eine Waschmaschine sparen.
In der Advents- und Weihnachtszeit wird die Welt ein bisschen heller: Wenn Johanna Geiger nachts auf ihre Tour geht, um die Zeitung für die Mittelbadische Presse Zustellservice GmbH & Co. KG (MPZ) in die Briefkästen zu stecken, begleitet sie die Lichterdeko in den Fenstern und auf der Straße. Und dann leuchtet ihr auch der große Tannenbaum im Offenburger Burda-Medien-Tower den Weg – ihr Zustellgebiet liegt seit einigen Jahren direkt in der Kinzigvorstadt.
Das macht es der 76- Jährigen einfach, weil sie auch selbst da wohnt – und die Zeitungen direkt ans Haus geliefert bekommt: »Ich habe es komfortabel «, freut sie sich. Wenn sie morgens gegen 5 Uhr zu ihrer Tour aufbricht, schafft sie die rund 100 Zeitungen in gut einer Stunde. Ihr Gebiet liegt im Ebenen um ihre Wohnung herum. Früher war sie auf der Lindenhöhe unterwegs, konnte dann aber auf eigenen Wunsch wechseln. Trotzdem hat sie ihr altes Gebiet lange vermisst: »Es war wie Urlaub mit dem Blick in den Schwarzwald«, sagt sie.
Will sie in dieser Jahreszeit die Zeitungen ins Postrohr stecken, klemmt es manchmal. Dann haben zufriedene Kunden etwas für sie selbst hinterlegt: Kaffee, Süßigkeiten etwas Geld – und Dankeskarten. Über diese Aufmerksamkeiten freut sie sich, weil sie ihre Arbeit, die sie oft im Dunkeln verrichtet, sichtbar macht. Vom Lob und der Anerkennung zehrt sie lange, weil sie sieht, dass ihre Bemühungen, zuverlässig die Zeitung zuzustellen, geachtet werden: »Die schönsten Karten bewahre ich auf.«
Auch sie selbst hinterlässt einen Weihnachtsgruß für ihre Abonnenten. Derzeit sucht sie nach einem Spruch, der »stimmungsvoll, aber nicht zu schwermütig ist«. Das macht sie schon immer so. Sie legt das Blatt dann der Zeitung bei, die sie bis spätestens 6 Uhr zugestellt hat. Die Idee hat sie aus Stuttgart mitgebracht; dort hat sie mit dem Zustellen begonnen, als ihre beiden Kinder noch sehr klein waren. Damals kostete ein Abo 5,40 DMark, wurde bar kassiert und es gab keine Einmalwindeln. »Also hatte ich den Topf auf dem Herd stehen, um sie auszukochen«, erinnert sie sich. Das war damals üblich, aber die ersten Waschmaschinen kamen auf den Markt. »Ich wollte unbedingt eine«, lacht sie. Ihr Mann fand das überflüssig – alle jungen Mütter hatten den Windeltopf auf dem Herd.
Als sie dann in der Zeitung ein Stellengesuch fand, bei dem Zusteller gesucht wurden, hat sie sofort ihre Austrägerin angesprochen. Diese meinte, dass es ein besonders bergiges Gebiet sei, aber Geiger ließ sich nicht abhalten. Sie bewarb sich und bekam ihre Chance: Sie wollte ja nur die Waschmaschine. »Nach einem viertel Jahr hatte ich sie zusammengespart«, erzählt Geiger. Ans Aufhören dachte sie allerdings nicht mehr: »Ich hatte den Vorteil entdeckt, finanziellen Spielraum zu haben«, berichtet sie. Konsequent hat sie ihren 60er-Jahre Haushalt mit Extras ausgestattet – damals Boiler, Spülmaschine und Co. – später investierte sie in eine Eigentumswohnung. »Und für den Urlaub war auch etwas übrig«, sagt die Rentnerin.
Früher war sie pünktlich zurück, um die Kinder zu wecken und für die Schule zu richten und das Mittagessen vorzukochen. Danach hat sie dann in Teilzeit bei Breuninger Mode verkauft. »Und heute habe ich danach immer noch den ganzen Tag Freizeit – wie alle anderen Rentner auch«, sagt sie. Die Reaktionen von außen sind trotzdem geteilt. »Hör doch auf«, sagen die einen. »Mach weiter, es hält dich fit«, meinen die anderen. »Solange die Füße tragen«, sagt sie selbst und würde gerne die 50 Jahre Zustellertätigkeit voll machen. Dann wäre sie 81. Zwar spürt sie es manchmal in den Knien, längere Touren beim Schwarzwaldverein sind eingestellt, aber mit »meinem Rolls Royce« läuft es bestens. Das »Dienstrad« hat einen tiefen Einstieg und eine besondere Konstruktion am Lenker. Die Vorrichtung, auf der eine Obstkiste montiert ist, stammt aus Holland. Dort arbeitet einer ihrer Enkel als Produktdesigner und hat das praktische Extra für seine Omi entdeckt: »Ich habe es dann einmal zu Weihnachten geschenkt bekommen.«
Immer vier, fünf Zeitungsexemplare entnimmt sie dann dem Korb, faltet und klemmt die unter den Arm, marschiert zu den Postkästen. Den Zeitungsrohren misstraut die Zustellerin, »gerade am Wochenende verschwindet da schnell mal was«, so ihre Erfahrung. Unterwegs trifft sie Leute, eigentlich immer die gleichen: »Sie laufen mit dem Hund oder gehen zum Bäcker oder zur Arbeit«, lächelt sie. Gegen Ende der Tour klingelt sie dann bei einer besonders treuen Abonnentin. Das ist das verabredete Zeichen, dass die Zeitung gerade jetzt in den Postkasten kommt. Manchmal öffnet die Leserin auch die Tür, dann bringt Geiger die Zeitung direkt ins Haus.
Die Kälte sei nicht schlimm, winkt sie ab. »Man hat Bewegung, da wird einem nicht kalt«, weiß sie aus langjähriger Erfahrung. Sie trägt bei der Arbeit eine Jacke, die der früheren Verkäuferin bei Breuninger in Stuttgart für ihren Alltag nicht mehr gefällt, dazu normale Schuhe, jetzt bei den Minusgraden auch eine Fellmütze. Das einzige, wovor sie sich im Winter fürchtet, ist das Glatteis: »Dafür gibt es keine Lösung«, sagt sie nach insgesamt 45 Jahren Zustellertätigkeit. Einmal hat sie sich auf einen Tipp hin alte Socken über die Schuhe gezogen. Man hätte es sich ja denken können: »Die haben nicht einmal bis zum Ende meiner Tour gehalten«, lacht sie. Am besten seien immer noch die Spikes, die MPZ zur Sicherheit seiner Zusteller verteilt.
Wieder zuhause, legt sie sich in der kalten Jahreszeit nochmal hin – diesen Luxus kann sie sich jetzt leisten: »Die Arbeit ist getan, ich habe Feierabend.« Es ist schließlich noch dunkel, und das wichtigste aus der Welt weiß sie ja schon: »Als erstes schaue ich morgens natürlich aufs Titelblatt.« Später genießt sie ihre Zeitungslektüre dann bei einer Tasse Kaffee. Im Frühjahr verzichtet sie auf die Stunde Schlaf: »Das ist meine Lieblingsjahreszeit«, sagt sie. Dann erwacht nicht nur der Tag, sondern auch die Natur: »Die Vögel zwitschern und es wird früher hell.« Auf die Zeitumstellung könnte Geiger deshalb verzichten: »Kaum hat man es geschafft, ist es plötzlich wieder dunkel.« Dabei gehört die Dunkelheit doch eigentlich zum Winter, zur Weihnacht und dem Dezember, wenn die Postkästen klemmen und Weihnachtsgeschenke und gute Wünsche die Welt menschlicher machen.
Fotos: Ulrich Marx