Zustellerin Iris Kremser-Wigant berichtet über ihre Tour durch die Nacht: Die 1,5 Stunden Bewegung bescheren ihr nicht nur sportliche Fitness, sondern auch gigantische Naturerlebnisse.
VON BETTINA KÜHNE
Kappelrodeck-Waldulm. Es sind die Naturerlebnisse, von denen Iris Kremser-Wigant als erstes schwärmt. Der glutrote Himmel bei Sonnenaufgang, wenn sie als Zustellerin der Mittelbadischen Presse gegen halb sechs Uhr schon fast wieder auf dem Rückweg ist, die Rehe, die schon mal waghalsig die Straße queren, oder der Waschbär, der in Natura so possierlich wirkt. Und natürlich die Katzen, die darauf warten, dass die „Zeitungsfrau“ auf ihrer nächtlichen Tour ein freundliches Wort und eine Streicheleinheit für sie hat. „Manche schnurren gleich um meine Beine herum“, lacht sie. Begegnungen mit Menschen bleiben eher selten, wenn Kremser-Wigant nachts zwischen 4.30 und 6 Uhr unterwegs ist. Aber wenn, „freuen sie sich, dass ich da bin“. Manche warten, bis ihr morgendlicher Lesestoff kommt.
Das große Ziel der Zustellerin ist es, die Zeitungen vor 6 Uhr in den Briefkästen platziert zu haben. Kürzlich war sie zwei Mal etwas später dran: Einmal hatte es beim Druck ein technisches Problem gegeben, das andere Mal wurde es später, weil die Ergebnisse des EM-Spiels noch mit sollten. „Das wird mir über eine Sms mitgeteilt, dass ich mich darauf einstellen kann“, sagt sie. Ihr Auftraggeber, die MPZ (Mittelbadische Presse Zustellservice GmbH & Co. KG), nutzt moderne Medien, um die Zusteller über Veränderungen auf dem Laufenden zu halte. Bei den Abonnenten, die sie mit der Acher-Rench-Zeitung beliefert, habe sie noch nie jemanden erlebt, der ungeduldig war: „Für solche Gründe haben alle Verständnis.“ Ihre Arbeit werde gewertschätzt, sagt sie. Die Zeitungsleser seien dankbar, und vor allem um die Weihnachtszeit würden die Leser in ihrem Gebiet sie mit Geschenken überraschen: Eigener Honig, selbst gemachter Likör oder ein Trinkgeld zählen dazu. Ihr Gebiet umfasst mittlerweile ganz Waldulm.
Angefangen hat das vor etwa zehn Jahren, als zwei Damen sie angesprochen haben, die aufhören wollten. Damals hatte sie einen pflegebedürftigen Vater und war froh um die Chance, raus zu kommen und eine Arbeit annehmen zu können, die sich mit der Pflegetätigkeit (Care-Arbeit) in der Familie vertrug, zu der auch ein Enkelchen zählt. Ab und an hilft ihr Mann mit, und auch ansonsten kann sie es ruhiger angehen lassen als früher: „Wenn ich nach Hause komme, richte ich mir mein Müsli, lege mich aber nochmal eine Stunde ab“, sagt sie. Natürlich gebe es auch die Nächte, in denen es kühl, nass, windig oder gar glatt ist, berichtet die Zustellerin. Da müsse man sich eben anpassen: „Die Ecken, an denen es schnell glatt wird, kenne ich inzwischen genau.“ Zudem gebe es immer wieder sinnvolle Ausstattungsteile von der MPZ – etwa die Spikes, die sie auch in diesem Winter wieder bekommen hat. Auch an den Aufmerksamkeiten sehe man, dass der Betrieb sich Gedanken um seine Zusteller mache. „Einmal gab es ein Stirnband als Geschenk, das ich sehr gerne trage“, verrät sie.
Auch die Weihnachtsfeiern seien immer toll, bei einem guten Essen könne man all diejenigen treffen, die man sonst ja nie sieht, weil sie in ganz anderen Gebieten unterwegs sind. Im vergangenen Jahr musste das Treffen wegen Corona ausfallen. Iris Kremser-Wigant ist sicher, dass sie durch diese Phase glimpflich gekommen ist, weil auch ihre Arbeit sie fit macht. Unterwegs ist sie zwar mit dem Auto, aber nur, weil sie ganz Waldulm abdeckt. „Ich stelle den Wagen ab, packe ein Bündel Zeitungen auf den Arm und gehe die Straße durch“, sagt sie. Dann kehrt sie zu ihrem neuen Opel Adam zurück, um Nachschub zu holen. Zehn Jahre war ein rotes Fiat-500-Cabriolet ihr Markenzeichen gewesen, für die Neuanschaffung hat sie auch auf ihren Trägerlohn zurückgegriffen, ebenso für ihr Mountainbike. „Wir werden fair entlohnt“, steht für sie fest. Dank ihres Einsatzes als Zustellerin konnte sie sich sogar ein Fahrrad ihrer Wunschmarke leisten. In ihrer Freizeit dreht sich für Iris Kremser-Wigant nämlich alles um den Sport: Mountainbiken und Schwimmen führen ihre persönliche Hitliste seit Jahren an. Und jetzt, wenn das Leben draußen wieder Fahrt aufnimmt, freut sie sich, ihre Freundinnen zum Frühstücken zu treffen.
Foto: Ulrich Marx